Der Arbeitszeugnis-Code
Was ist der Zeugniscode?
Hinsichtlich der Frage, ob es einen „Zeugniscode“ gibt und ob es sich dabei um einen „Geheimcode“ handelt, herrscht eine gewisse Unklarheit, sowohl auf Arbeitnehmer- wie auch auf Arbeitgeberseite. Dieses Video erläutert anschaulich, wie der Zeugniscode entstanden ist und worin der Unterschied zum „Geheimcode“ besteht.
Der Wortschatz der Zeugnissprache
Die zahlreichen Formulierungen, die das sehr weit verbreitete Fachbuch „Arbeitszeugnisse in Textbausteinen“ von Prof. Arnulf Weuster und Brigitte Scheer aus dem Boorberg Verlag bereitstellt, sind bei Personalern bekannt und daher für kundige Leser unmissverständlich. Ein Großteil der Fachliteratur und Zeugnis-Software orientiert sich an den etablierten Weuster/Scheer-Formulierungen. Arbeitnehmern fehlt mit Blick auf ihr eigenes Zeugnis natürlich der Vergleich: Sie wissen nicht, wie die Floskeln in anderen Noten klingen würden. Dass ein Ausdruck wie „Er/Sie verfügt über ein fundiertes Fachwissen“ nur einer durchschnittlichen Wertung entspricht, weiß man nur, wenn man die entsprechende Aussage in den besseren Noten kennt (z.B. „Er/Sie verfügt über ein umfangreiches und besonders fundiertes Fachwissen“, Note 1).
Missverständliche Floskeln
Wenn Verlage Software bzw. Fachbücher auf den Markt bringen, die neue und ggf. etwas missverständlich formulierte Aussagen enthalten, kann dies zu Irritationen führen. So lässt folgender Floskel stutzen: „Bei der Beobachtung und Einordnung sozialer Gegebenheiten bewies sie großes Geschick“. Mir erschien die Aussage zunächst wie ein versteckter Hinweis darauf, dass die Zeugnisempfängerin gerne hinter vorgehaltener Hand abwertend über Kollegen spricht. MAn kann sie in einer neuen Software als Formulierungsvorschlag zum Thema Verhalten/Gesprächsführung in der Note 1 finden.
Streitpunkt Pauschalität
Eine an sich begrüßenswerte Einheitlichkeit und Allgemeinverständlichkeit der Zeugnissprache kann aber auch zum Problem werden. Verlage sind natürlich daran interessiert, dass ihre Zeugnis-Fachbücher und Zeugnis-Software möglichst viele Käufer finden und sich somit für alle Berufe zugleich eignen. Entsprechend pauschal fallen die Formulierungen mehrheitlich aus. Viele wichtige berufsspezifische Eigenschaften können unter Zuhilfenahme der meisten Fachbücher und Software-Anwendungen nicht gewürdigt werden, z.B. das weit reichende, wertvolle Netzwerk eines Marketing Managers oder der empathische Umgang von Pflegekräften mit Patienten. Eine hilfreiche Entwicklung wäre daher, wenn Fachbücher und Zeugnissoftware stärker auf berufsspezifische Qualifikationen eingingen, um die Aussagekraft der Zeugnisse zu erhöhen.
Sind Zeugnisse unlaubwürdige „Lobeshymnen“?
Oft wird kritisiert, dass Zeugnisse „übertriebene Lobeshymnen“ und daher unglaubwürdig seien. Dabei wird übersehen: Im normalen Sprachgebrauch gibt es nur zwei Stufen des Lobes (gut, sehr gut) und zwei Stufen der Kritik (schlecht, sehr schlecht). In Arbeitszeugnissen soll – zum Schutz der Arbeitnehmer – grundsätzlich mit verständigem Wohlwollen geurteilt werden. Dies beginnt bei einem schwachen Lob (z.B. „Er/Sie hat unseren Erwartungen in der Regel entsprochen“, Note 5) und wird bis zur Note 1 vierfach (!) gesteigert (z.B. „Er/Sie hat unsere Erwartungen stets sehr weit übertroffen“). Zeugnisse sind dadurch – gemessen am normalen Sprachgebrauch – zwar positiver formuliert, decken aber durchaus das ganze Spektrum der kritischen Bewertung ab. Die negative Bedeutung von an sich gut klingenden Formulierungen wird nicht selten mit dem berüchtigten „Geheimcode“ verwechselt. Ein Geheimcode entspricht jedoch keiner Note, sondern warnt vor einer vermeintlichen Charakterschwäche von Arbeitnehmern (z. B. Alkoholkonsum, Diebstahl). Geheimcodes sind nicht zulässig und werden von deutschen Unternehmen auch grundsätzlich nicht verwendet, dennoch sind sie – vergleichbar mit dem Ungeheuer von Loch Ness – seit jeher ein beliebtes Sommerloch-Thema der Medien.
Unterschätzte Glaubwürdigkeit
Ein weiterer Aspekt, der bei der harschen Kritik an der Glaubwürdigkeit von Arbeitszeugnissen oft übersehen wird, ist: Niemand bezweifelt ernsthaft, dass ein Arbeitnehmer, der ein Arbeitszeugnis vorlegt, auch tatsächlich bei diesem Arbeitgeber in den genannten Funktionen beschäftigt war. Dies erspart den Unternehmen im deutschen Sprachraum die aufwändigen „background checks“, mit denen z.B. in den USA die Angaben im Lebenslauf eines Bewerbers überprüft werden müssen.
Problemfall Eigenentwurf
Manche Vorgesetzte bieten ihren Mitarbeitern an, einen Zeugnisvorschlag einzureichen, um von vorn herein zu vermeiden, dass ein pauschales, liebloses Zeugnis zum Streitfall wird. Die Arbeitnehmer beschreiben dann in der Regel detailliert und chronologisch ihre Karriere im Unternehmen und vermischen dabei die Textformen Zeugnisurkunde, Empfehlungsschreiben und Laudatio. Dass es sich hierbei um eine allzu wohlwollende Selbstdarstellung handelt, ist für kundige Leser leicht erkennbar, entsprechend gering ist der Wert von Eigenentwürfen.
Das Arbeitszeugnis im Wandel der Zeit
Am Beispiel Arbeitszeugnis, das im deutschen Sprachraum ja schon seit Jahrhunderten das Berufsleben mitprägt, zeigt sich sehr anschaulich, wie sich die Berufswelt wandelt. Stellenwechsel finden heutzutage in deutlich kürzeren Intervallen statt als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten. Aktuelle Vorgesetzte, die Beurteilungen vornehmen, kennen die ihnen unterstellten Mitarbeiter mitunter nur flüchtig, sollen im Falle einer Zeugniserstellung aber dennoch die Leistungen im gesamten Beschäftigungszeitraum bewerten. Auch in den Personalabteilungen ist die Fluktuation gestiegen und die Vertrautheit mit den klassischen Arbeitsmitteln eines Personalers, zu denen auch die Zeugnissprache zählt, nimmt stetig ab. Aus Kostendruck werden nicht nur die produktionstechnischen, sondern auch administrative Prozesse zunehmend automatisiert und für die Erstellung eines Arbeitszeugnisses bleiben so oft nur wenige Minuten.
Dies führt unweigerlich dazu, dass die Zeugnisse den individuellen Karrieren und Qualifikationen immer weniger gerecht werden. Insbesondere der Werdegang im Unternehmen und die erreichten Erfolge, die zu den zentralen Aspekten eines Zeugnisses zählen, werden durch den Einsatz von Zeugnisgeneratoren stark vereinfacht dargestellt oder entfallen. Es fehlt letztlich ein gewisser Respekt gegenüber der Leistung von Mitarbeitern, die ein Unternehmen verlassen und dabei nicht selten auch zur Konkurrenz wechseln. Paradoxerweise bemängeln Personaler zugleich die geringe Aussagekraft der Zeugnisse von Bewerbern, da sie bei der Vorausauswahl der bestgeeigneten Kandidaten keine Hilfe sind. Dieser Widerspruch ließe sich nur beheben, wenn Unternehmen wieder dazu übergehen, Arbeitszeugnisse so aussagekräftig auszustellen, wie sie diese auch erhalten wollen.